Neue Versorgungsempfehlungen für Milchkühe
NEL und nXP werden abgelöst
Nach mehr als 20 Jahren veröffentlichte die Gesellschaft für Ernährungsphysiologie (GfE) im Herbst 2023 die neuen Versorgungsempfehlungen für Milchkühe in einem 288-seitigen Buch. Die bisherigen Empfehlungen entsprachen nicht mehr dem Stand der internationalen Forschung und wurden deshalb grundlegend überarbeitet. Deutschland verabschiedet sich von NEL und nutzbarem Rohprotein (nXP). Die Umsetzung der neuen Empfehlungen ist für Oktober 2025 vorgesehen.
1. Energie
Die ME (umsetzbare Energie) ist künftig der Energiemaßstab für alle Wiederkäuer, was sehr vorteilhaft ist. Die Umstellung von NEL auf ME ist recht unproblematisch, da auch im NEL-System die ME die Grundlage ist. Neu ist, dass der Erhaltungsbedarf der Milchkuh nun höher eingeschätzt wird (laktierende Kuh: 0,64 MJ ME/kg LM0,75, Trockensteher: 0,50 MJ ME/kg LM0,75). Auch die Energieverwertung für die Milchbildung ist höher als bisher angenommen (0,66 statt 0,60), so dass der Energiebedarf für die Milchbildung sinkt.
Es erfolgt eine klare Trennung von Futtermittelbewertung und Bedarfsermittlung, d.h. dass mit der ME besser zwischen dem Energielieferungsvermögen der Futtermittel und dem Energiebedarf der Tiere unterschieden werden kann. Im bisherigen NEL-System wird die Verwertung der ME mit 60 % angenommen, 40 % der ME sind unvermeidliche Wärmeverluste. Letztere hängen jedoch von der Leistung der Tiere (Milchbildung, Wachstum etc.) ab. Sie sind folglich tier- und nicht futtermittelbedingt und können nicht konstant sein. Oder anders ausgedrückt: Die ME-Verwertung wird nicht von der Futterqualität, sondern im Tier bestimmt. Im neuen ME-System wird der Wärmeverlust deshalb beim Energiebedarf der Tiere berücksichtigt.
Im NEL-System wird die ME über die verdaulichen Rohnährstoffe berechnet (GfE, 2001):
ME (MJ) = 0,0312 x g verd. Rohfett + 0,0136 x g verd. Rohfaser + 0,0147 x g (verd. organische Substanz - verd. Rohfett - verd. Rohfaser) + 0,00234 x g Rohprotein
Zusätzlich werden für verschiedene Futtermittel (z.B. Silagen) Energieschätzgleichungen auf der Basis von Rohnährstoffen und in vitro-Parametern angewendet.
Im neuen System wird die ME in einem dreistufigen Verfahren, ausgehend vom Brennwert des Futtermittels, berechnet. Hierin stellt die Verdaulichkeit der organischen Masse eine zentrale Größe dar. Je höher verdaulich ein Futtermittel, desto höher sein Energielieferungsvermögen.
Das dreistufige Verfahren basiert auf der Bestimmung der Verdaulichkeit der Energie sowie der Harnenergie- und der Methanenergie-Verluste.
- Verdaulichkeit der Energie (ED = energy digestibility)
Sie kann aus der Verdaulichkeit der Organischen Masse (OMD = organic matter digestibility)) abgeleitet werden, da sich ED und OMD durch eine konstante Differenz unterscheiden:
ED (%) = OMD (%) - 3,3
Die OMD kann über Verdauungsversuche oder Schätzgleichungen ermittelt werden. So existieren Schätzgleichungen z.B. für Mais- und Grasprodukte.
Schätzgleichung für Maisprodukte (GfE, 2020):
OMD (%) = 64,45 + 0,02677 x ELOS (g/kg OM) - 0,03814 x ADFom (g/kg OM)
Schätzgleichung für grasbetonte Grünlandaufwüchse auf Basis Gasbildung (GfE, 2023):
OMD (%) = 58,3 + 0,0926 x Rohprotein (g/kg OM) - 0,0487 x aNDFom (g/kg OM) + 0,502 Gasbildung (ml/200 mg OM)
- Harnenergieverluste (Harnenergie UE = urinary energy)
Sie hängen maßgeblich vom Rohproteingehalt ab und werden wie folgt berechnet:
UE (MJ/kg OM) = 0,0037 x Rohprotein (g/kg OM)
- Methanenergieverluste (CH4-E)
Sie hängen wesentlich von der Verdaulichkeit der organischen Masse ab und werden wie folgt berechnet:
CH4-E (MJ/kg OM) = 0,7 + 0,014 x OMD (%)
Berechnung der ME
Zur Berechnung des ME-Gehalts wird auch die Bruttoenergie (GE = gross energy) benötigt. Diese ist mit dem Brennwert eines Futtermittels identisch, kann im Bombenkalorimeter bestimmt oder nach folgender Gleichung berechnet werden:
GE (MJ/kg) = 0,0239 x Rohprotein (g/kg) + 0,0398 x Rohfett (g/kg) + 0,0173 x Stärke (g/kg) + 0,016 x Zucker (g/kg) + 0,0189 x Organischer Rest (g/kg)
Organischer Rest = organische Masse - Rohprotein - Rohfett - Stärke - Zucker
Der ME-Gehalt eines Futtermittels berechnet sich aus Bruttoenergie (GE), Verdaulichkeit der Energie (ED), Harnenergieverlust (UE) und Methanenergieverlust (CH4-E):
ME (MJ/kg TM) = (GE (MJ/kg OM) x ED (%)/100 - UE (MJ/kg OM) - CH4-E (MJ/kg OM)) x (1 - Rohasche (g/kg TM)/1000) |
Berücksichtigung des Futteraufnahmeniveaus (FAN)
Die neuen Empfehlungen berücksichtigen unterschiedliche Futteraufnahmeniveaus (FAN), da bei höherer Futteraufnahme die Passagerate des Futters steigt und die Verweilzeit im Verdauungstrakt sinkt, wodurch die Verdaulichkeit abnimmt. Das FAN orientiert sich an der Futteraufnahme, die für die Deckung des Erhaltungsbedarfs notwendig ist.
FAN 1 (Erhaltungsniveau) entspricht einer TM-Aufnahme im Bereich des Erhaltungsbedarfs und ist so definiert: 50 g TM-Aufnahme je kg Lebendmasse0,75.
Beispiel: Bei einer Kuh mit 660 kg LM (= 130 kg LM0,75) entspricht ein FAN 1 einer TM-Aufnahme von 6,5 kg (→ 50 g TM x 130).
FANi ist das realisierte Futteraufnahmeniveau und stellt das Verhältnis von aktueller Futteraufnahme zur Futteraufnahme dar, die für die Erhaltung erforderlich ist. Beispiel: Eine Milchkuh mit 660 kg LM und einer TM-Aufnahme von 25 kg hat ein FANi von 3,85 (→25 kg TM/6,5 kg TM).
Mit zunehmendem FAN sinkt die Verdaulichkeit der OM. Beträgt die OMD bei einem FAN 1 beispielsweise 85 %, liegt sie bei einem FAN 3 nur bei 80 %.
Die Tabelle 1 zeigt den Einfluss des Futteraufnahmeniveaus auf den ME-Gehalt von Rationen.
OMDFAN1 (%) |
FAN 1 6,5 kg1) |
FAN 2 13 kg |
FAN 3 19,5 kg |
FAN 4 26 kg |
85 80 |
13,5 12,6 |
13,5 12,6 |
13,2 12,4 |
12,8 12,0 |
1)TM-Aufnahme einer Kuh mit 660 kg LM
Für die Praxis ist festzuhalten, dass Grobfutter, insbesondere solche mit einer hohen Verdaulichkeit der organischen Masse, im neuen System energetisch relativ höher bewertet werden.
2. Protein
Wie alle Tiere haben Wiederkäuer einen Bedarf an essenziellen Aminosäuren. Im Unterschied zu Nichtwiederkäuern müssen aber nicht alle Aminosäuren vollständig mit dem Futter aufgenommen werden, sondern können von den Mikroorganismen im Pansen produziert werden. Das neue Proteinbewertungssystem unterscheidet sich wesentlich vom GfE-System (2001), denn die Proteinbewertung erfolgt zukünftig nicht mehr mit dem nutzbarem Rohprotein (nXP), sondern mit dem dünndarmverdaulichen Protein (sidP = Summe des im Dünndarm verdaulichen Aminosäuren-Stickstoffs x 6,25). Das neue System berücksichtigt die unterschiedlichen Dünndarmverdaulichkeiten der Aminosäuren (sidAA) von Futtermitteln. Dadurch kann näher am tatsächlichen Bedarf gefüttert werden. Mit den neuen Proteinkennwerten soll eine bedarfsgerechte Ergänzung einzelner Aminosäuren über das Futter möglich sein, was zu einer höheren N-Effizienz führt.
Das dünndarmverdauliche Protein sidP (small intestinal digestible protein) ist die Summe aus dem dünndarmverdaulichen Mikrobenprotein (sidMP) und dem dünndarmverdaulichen UDP (im Pansen nicht abgebautes Futterprotein) → sidP = sidMP + sidUDP.
- Dünndarmverdauliches Mikrobenprotein (sidMP)
Das mikrobielle Rohprotein (MCP) mit den darin gebundenen Aminosäuren ist die zentrale Größe im Proteinbewertungssystem. Die GfE hat aufgrund von Literaturdaten entschieden, das MCP auf die verdauliche organische Masse (DOM) und nicht auf die im Pansen fermentierte organische Masse zu beziehen. Dabei hängt die Effizienz der mikrobiellen Proteinsynthese von der Futteraufnahme ab. Bis zu einer 22 kg TM-Aufnahme je Tag werden 150 g MCP/kg DOM angenommen. Oberhalb von 22 kg TM erfolgt ein Zuschlag von 7 g MCP je kg DOM für jedes Kilogramm zusätzlich aufgenommener TM bis zu einem Maximum von 180 g MCP je kg DOM.
Für die Bedarfsableitung wurde ein Anteil von 85 % Pansenbakterien und 15 % Protozoen am MCP festgelegt. Aus den Aminosäurenmustern von Bakterien- und Protozoenprotein ergibt sich das Aminosäurenmuster des MCP. Je 100 g Mikrobenprotein sind z.B. 2,6 g Methionin und 8,7 g Lysin enthalten. Es wird ein Anteil von 78 % mikrobiellem Aminosäuren-Stickstoff am gesamten mikrobiellen Stickstoff angenommen. Wird die Menge an MCP mit 78 % multipliziert, ergibt sich das Mikrobenprotein. Mit einer mittleren Dünndarmverdaulichkeit von 85 % wird aus dem Mikrobenprotein das dünndarmverdauliche Mikrobenprotein (sidMP) berechnet.
Für die Berechnung des sidMP werden demnach folgende Parameter benötigt: TM-Aufnahme und LM0,75 zur Ermittlung des Futteraufnahmeniveaus, die organische Masse und deren Verdaulichkeit.
- Dünndarmverdauliches UDP (sidUDP)
Der Abbau des Rohproteins (EDG = effective degradation = effektiver Abbau) hängt von der Höhe der ruminalen Passagerate und damit von der Futteraufnahme ab. In die Gleichungen zur Berechnung des EDG fließen die geschätzten Parameter des Proteinabbaus aus den in-situ-Untersuchungen und die Passageraten ein, welche über Schätzgleichungen abgeleitet und nach Grobfutter, Konzentraten und Rationen differenziert sind. Das UDP wird wie folgt berechnet: UDP = 100 - EDG
Die GfE nimmt an, dass das UDP ausschließlich aus Aminosäuren besteht.
Bis einfach anzuwendende Analysenmethoden zur Bestimmung der Dünndarmverdaulichkeit des UDP vorliegen, können Tabellenwerte genutzt werden. Die Tabellen im GfE-Buch „Empfehlungen zur Energie- und Nährstoffversorgung von Milchkühen“ (2023) enthalten Daten zur Dünndarmverdaulichkeit des UDP und der Aminosäuren von 51 Futtermitteln.
Was ist noch zu tun?
Um das System in der Praxis zu etablieren, sind noch einige Mammutaufgaben zu erledigen. Futterwerttabellen müssen ergänzt und Fütterungsprogramme erweitert werden. Die Laboranalytik ist anzupassen. Für die Futtermittelkontrolle bedarf es einer neuen Schätzgleichung. Berater und Lehrer brauchen intensive Schulungen. Und zu guter Letzt sind Lehrbücher und andere Schulungsunterlagen zeitnah anzupassen.
Kontakte
Andrea Meyer
Rinderfütterung, Schweinefütterung, Futterberatungsdienst e.V.
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